Die Dipl.-Psychologin Colette Mergeay engagiert sich seit mehreren Jahrzehnten im Bereich der Frauengesundheit. Inzwischen ist sie eine bekannte Referentin, wenn es um Themen der Geburt, Bindungsförderung und Wochenbett geht. Auf unserer gemeinsamen Landestagung mit dem Hebammenlandesverband Bremen e.V. reflektierte sie über diese drei Themen in unserer Krankenhauskultur.
Hebammenwissen im Nicht-Wissen
Colette Mergeay
Mein Vortrag wird von drei Grundgedanken getragen: von der Bedeutung des Selbstvertrauens im gesamten Geburtsprozess als Voraussetzung für Bindungsfähigkeit, von der kritischen Reflexion über die Entwicklung des Schlagwortes „Selbstbestimmung“ in der Geburtshilfe und von den Möglichkeiten Ihres Hebammenwissens in diesem Zusammenhang.
Dass Bindung existentiell wichtig für das Gedeihen der Menschenkinder ist, wurde erst in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts überhaupt wissenschaftlich zur Kenntnis genommen. Bis dahin war das Bindungsbedürfnis von Neugeborenen und Kleinkindern in den entsprechenden Disziplinen zwar registriert, aber nur als „Mittel zum Zweck„ (etwa als Verlangen nach Nahrung) gedeutet worden. Lange wurde davon abgeraten, auf diese Signale zu reagieren, „um das Kind nicht zu verwöhnen“.
Dabei weckt das natürliche Bedürfnis des Kindes nach Zuwendung und Nähe als ebenso natürliche Antwort das Fürsorgeverhalten der angesprochenen Person.
In ihrer interaktiven Dynamik ermöglicht Bindung überhaupt den Schutz und das Überleben der Schwächeren, also am Anfang des Lebens: des Neugeborenen, und ist damit konstituierend für den Erhalt der menschlichen Gemeinschaft.
Für den Einzelnen ist sie als Grundlage von menschlichen Beziehungen die Voraussetzung dafür, dass sich Persönlichkeit, dass sich Autonomie entwickeln kann. Denn im Lebensrhythmus von Übergängen wird eine gute Lösung erst durch die vorausgegangene gute Bindung ermöglicht und ist selbst wieder Voraussetzung dafür, dass neue Bindungen entstehen können.
Das Kind, das geboren wird, ist ganz und gar und für eine lange Zeit auf die physische, psychische, emotionale, soziale Zuwendung seiner Mutter, seiner Eltern, angewiesen.
Es ist, um den Hirnforscher Dawirs zu zitieren „ein waghalsiges Konzept der Evolution, denn es funktionieret nur durch Liebe“!
Vor diesem Hintergrund ist die Schwangerschaft als die besondere Lebensphase zu verstehen, in der die künftige Mutter lernt, ihre Bereitschaft und ihre Fähigkeit, sich auf die Bindung zu ihrem Kind einzulassen und ihr intuitives Selbstvertrauen in diesem Lernprozess zu entwickeln.
Unter den Prämissen, dass Raum (der Leib der Mutter) und Zeit (vierzig Wochen) -jetzt wie vor Abertausenden von Jahren, hier wie überall auf der Welt- nicht beliebig, sondern vorgegeben sind, und dennoch jeweils individuell erlebt werden, bietet sich in jedem Trimenon der Schwangerschaft eine neue Dimension des Geschehens, einen neue Stufe des Selbstvertrauens. Zunächst, noch bevor sie ihr Kind überhaupt spüren kann, übt die schwangere Frau ihre wachsende Sensibilität am eigenen Leib, indem sie ihre Veränderungen und womöglich schwankenden Gefühle und Bedürfnisse wahrnimmt: ihre inneren Fühler können sich entfalten. Im zweiten Trimenon, mit den ersten Bewegungen des Ungeborenen beginnt die Ich-Du-Interaktion, die Ur-Beziehung mit ihm. Und am Ende der Schwangerschaft, entsprechend der Gesetzmäßigkeit des Lebensrhythmus, nach welcher Bindung Voraussetzung für die Lösung ist, bereitet sich die Schwangere nun auf das Loslassen vor, um, durch die Ent-bindung, die neue Bindung zu ihrem Kind einzugehen.
Für die künftige Mutter und auch für ihren Partner bedeutet dieser Prozess eine Herausforderung, aber er bietet auch eine unterstützende Orientierung. Sie muss nicht „machen“, sondern die stetig wandelnde Situation aufmerksam, geduldig annehmen. Dafür ist die vorgegebene Zeit da: sie braucht sie nicht zu bestimmen! Im wachsenden Selbstvertrauen und Vertrauen kann sie im Laufe der 40 Wochen „aktiv geschehen lassen“. Und indem sie und indirekt auch ihr Partner es tun, gewinnen sie auch Zuversicht und Gelassenheit, nicht nur für die Geburt, sondern überhaupt für ihre Aufgabe als Eltern.
Im Unterschied zum erwähnten Selbstvertrauen halte ich die oft zu hörende Aufforderung zur „Selbstbestimmung“, im Kontext von Geburt, bestenfalls für inadäquat und in der jetzigen Entwicklung der Geburtshilfe sogar für problematisch.
Vor 30 oder 40 Jahren war beim Kampf um eine bessere Geburtshilfe der Begriff der Selbstbestimmung aus dem politischen und juristischen Kontext der Frauenbewegung übernommen worden. Es ging uns um den Protest gegen die damaligen ärztlichen Interventionen und Krankenhausbedingungen, die von den Frauen als Fremdbestimmung empfunden wurden, Es ging um eine „frauengerechte Geburtshilfe“. Dabei wurde stillschweigend davon ausgegangen, dass die Bedürfnisse der Mutter mit denen des Kindes so verwoben seien, dass es nicht nötig wäre, die Bedürfnisse des Kindes ausdrücklich zu betonen.
Erreicht wurden eine Umgestaltung der Kreißsäle, eine abgeschwächte Hierarchie zwischen ÄrztInnen und Hebammen, eine selbstverständliche Anwesenheit der Väter bei der Geburt, teilweise eine Umorganisation der Wochenstation und eine allerdings nur kurzfristige Wiederbelebung der Hausgeburt.
Soweit so gut.
Aber ab den 80er Jahren geschah eine besondere Übernahme der Schwangeren durch die Medizin -provokativ würde ich von einem Zugriff auf die Schwangerschaft sprechen-, vor allem durch die Echographie.
Fortan war die Schwangere ab dem ersten Test eine Patientin und das Kind ein potentieller Patient. Allseits wird nun betont, dass Schwangerschaft und Geburt physiologische Prozesse sind. De facto geraten nun die Frauen und ihre ungeborenen Kinder durch die Pränataldiagnostik in den Fokus von möglicher Pathologie, noch lange bevor sie für die Geburt ins „Haus der Kranken“ gehen.
Dabei beginnt die Diagnostik oft nur mit dem freundlich gemeinten Angebot, der Schwangeren ein Ultraschallbild zu zeigen (und es ihr zu deuten!). Es verlangt heutzutage viel Eigensinn und viel Mut zur Geduld, um auf die Faszination des Ultraschalls zu verzichten, das innere intuitive magische Bild des Ungeborenen durch keine Pixeldarstellung zu ersetzen und das Recht auf Nicht-Wissen wahrzunehmen! Dies gilt übrigens in besonderem Maße für den künftigen Vater.
Nun wird interveniert, als sei die Schwangerschaft ein planbarer aber risikoreicher Herstellungsvorgang, den es gilt von „Kontrolluntersuchung“ zu „Kontrolluntersuchung“ notfalls „engmaschig zu überwachen“.
Und gerade unter dem Mantel der „Selbstbestimmung“ wird die künftige Mutter entlang ihrer Schwangerschaft bis hin zur Geburt aufgefordert, sich für oder gegen mögliche Maßnahmen zu entscheiden und damit paradoxerweise „selbstbestimmt“ ihre genuine natürliche Fähigkeit, ihr „Vermögen“, an die Medizin zu übergeben.
Die abstrakten Risiken machen aus der Zeit ihrer guten Hoffnung ein Hindernislauf der Ängste, der sie von ihrem intuitiven Selbstvertrauen entfernt. Nun geht es weniger um die Begleitung von Schwangeren als um „Schwangerschaftsvorsorge“. Was für ein Begriff! Wenn Sie auf Google das Wort tippen, taucht ein Bildschirm auf, mit dem ¾ Profil vermutlich von einer Ärztin, die das Ultraschallbild prüft. Die Schwangerschaft wird außerhalb der Schwangeren dargestellt, und die Bedürfnisse des zur Welt kommenden Kindes geraten unter solchen Bedingungen aus dem Blick . Mehr noch: durch das normative Screening der Pränataldiagnostik wird tendenziell das reale Kind zur Disposition gestellt.
Das ist nicht nur im Hinblick auf die Geburt problematisch, es erschwert zudem nachhaltig die Entwicklung von Vertrauen und Selbstvertrauen bei den Eltern und es erschwert die Etablierung einer zuversichtlichen und liebevollen Bindungsfähigkeit.
Auf die Ent-bindung fokussiert sich die bange Erwartung in diesem überwachten Countdown von „Wochen plus Tagen“, eher als auf die anschließende existentielle Bindung.
Bezeichnend für diese Entwicklung ist der jetzige Stellenwert des Wochenbettes, das die meisten Frauen und Paare nicht mehr als Teil des Geburtsprozesses, als besondere Auszeit für diese neue Bindung wahrnehmen. Schon seine Dauer erscheint beliebig, beziehungsweise wird den Anforderungen der bisherigen Arbeits- und Lebenswelt angepasst. Für viele Eltern reduziert sich der Begriff „Wochenbett „ auf „die Woche im Krankenhaus“, mag diese „Woche“ auch nur drei Tage dauern. Unter den Bedingungen der westlichen Moderne, und ganz besonders seit der Etablierung der Krankenhausgeburt gibt es für die Wöchnerinnen kein kulturelles Muster mehr, an dem sie sich orientieren kann. Wir erleben die „Ent-Bettung“ des Wochenbettes. Die Gestaltung dieser besonders sensitiven Zeit wird der Wöchnerin und ihrem Partner überlassen. Das ist eine mühsame Aufgabe, die das Paar oft überfordert.
Denn der geregelte Alltag, den es sich vor der Geburt vorstellte und den es sicher war, ohne besondere Unterstützung allein gestalten zu können, erweist sich schnell als unerwartet schwierig. Die meisten Eltern streben danach, die neue Situation möglichst früh an die gesellschaftliche Normalität anzupassen und erleben dann als krisenhaft die Kollision zwischen neuer Realität und gedachter Vorstellung, genauer: zwischen dem Einlassen auf die Bindungsbedürfnisse des Kindes (wie auch auf die eigenen!) und dem Festhalten an abstrakten eigentlich bindungsfeindlichen Regeln.
Aber das Neugeborene hält sich nicht an solcher Fremdbestimmung. Es bringt seinen anarchischen Rhythmus, seine existentiellen Bedürfnisse, seine Sprache. Es gilt, diese Sprache zu lernen, sich in dieser Phase von den Bedürfnissen des Kindes vertrauensvoll leiten zu lassen. Nur so kann das Neugeborene, eingebettet in der Liebe seiner Eltern wiederum Selbstvertrauen, Lebenslust, und Liebesfähigkeit entwickeln..
Dabei sind im natürlichen Geburtsprozess die 40 Tage des Wochenbettes, wie die 40 Wochen der Schwangerschaft, keine beliebige Zeitspanne. Analog zum Rhythmus der Schwangerschaft bietet jede Phase des Wochenbettes eine besondere Stufe in der vertrauensvollen Etablierung des neuen Beziehungsgefüges: Tage der anfänglichen leiblichen Anpassung und Entwicklung einer besonderen Feinfühligkeit, für sich und für die Bedürfnisse des Neugeborenen, Tage von wachsender Bildung der Ich-Du-Wir-Beziehung zu der einzigartigen Persönlichkeit des kleinen neuen Menschen, und zum Schluss, mit dem „Verlassen des Bettes“, Tage der Integration dieser Beziehung in den Alltag der jungen Familie.
Das „aktive Geschehen Lassen“, das vorher in Schwangerschaft und Geburt eingeübt wurde kann sich in dieser allerersten Phase der Bindung zum Neugeborenen entfalten: als Annahme des gänzlich Neuen im Vertrauen und Selbstvertrauen.
Selbstvertrauen ist also in jeder Phase des Geburtsprozesses Basis der erwünschten Bindung und es braucht in jeder Phase eine vertrauenswürdige Unterstützung, um im natürlichen Rhythmus zu wachsen. Liebe Hebammen, diese Unterstützung zu geben ist Ihr genuines „Vermögen“, und ist Ihre Verantwortung. Sie können mit Beginn der Schwangerschaft, entlang dem ganzen Geburtsprozess das Selbstvertrauen der Frauen die Sie begleiten fördern. Sie können dazu beitragen, deren natürliche Angst als Urerfahrung im Geburtsgeschehen adäquat anzunehmen und aufzuheben.
Zu Recht betonen Sie Ihre Zuständigkeit für den physiologischen (ich würde ergänzen: für den ganzheitlichen) Prozess der Geburt . Dafür steht Ihr Hebammenwissen, empirisch fundiert und durch interdisziplinäre Erkenntnisse vertieft. Es ermöglicht Ihnen eine aufmerksame und vertrauensvolle Annahme des Nicht-Wissens, das jeder Geburt beiwohnt.
Allerdings steht eine solche Haltung eher im Widerspruch zu der gegenwärtigen Entwicklung der Geburtshilfe, denn diese läuft Gefahr zur hoch technisierten, teuren -oder lukrativen, je nach Standpunkt- Entbindungsmedizin zu werden. Dies um so mehr als das Gesundheitssystem zunehmend unter dem Primat einer profitorientierten Ökonomie organisiert wird.
Auf der Suche nach Koordinaten für eine qualitative Geburtshilfe scheint es mir heute wichtiger denn je, sich auf die einfache Wahrheit zu besinnen: die Geburt ist mit dem Tod ein der beiden existentiellen Übergänge im Leben eines Menschen. Es ist für das Menschenkind nicht gleichgültig, wie es geboren wird . Das heißt: Im Zentrum unserer Überlegungen bei der „Hilfe zur Geburt“ muss es um die Bedürfnisse, um das Anliegen des Kindes gehen, das zur Welt kommt.
Nehmen wir diese Gewichtung vor, können wir der Fokussierung auf abstrakte Risiken und der Beliebigkeit der Kundenorientierung entkommen. Alle Subjekte am Geburtsgeschehen gewinnen. So kann ein Klima des aufmerksamen Vertrauens und Selbstvertrauens entstehen, in dem die Würde der künftigen oder jungen Mutter Resonanz bekommt.
Ihre besondere, privilegierte Position als Hebammen ermöglicht es Ihnen, dazu beizutragen. Allerdings ist es im aktuellen medizinischen Bezugsrahmen nicht selbstverständlich.
So ist es auch von besonderer Bedeutung, dass Sie in Zusammenarbeit mit den anderen beteiligten Berufen die konkreten Bedingungen der Geburtshilfe weiterentwickeln und verbessern.
Es geht z.B.
• um die Forderung nach Kontinuität in der Begleitung der Schwangeren durch Hebammen schon mit Beginn der Schwangerschaft,
• um das frühe Angebot von Vorbereitungskursen, die dem oben erwähnten Anliegen gerecht werden,
• um die Durchsetzung der Eins-zu-Eins-Betreung im Kreißsaal,
• um die Umsetzung der S3-Leitlinie zur vaginalen Geburt,
• um die Entdämonisierung und Resozialisierung der Hausgeburt,
• um die frühe Vorbereitung und aufmerksame Begleitung des Wochenbettes...
Ich habe in diesem Zusammenhang die Schwerpunkte der heutigen Tagung mit Freude zur Kenntnis genommen und bin sicher, dass der heutige Tag uns diesbezüglich viele Impulse geben wird. Ich wünsche Ihnen allen viele neue Erkenntnisse, viel Bestätigung, viel Ermutigung und viel Freude dabei.