Hebammen aus Niedersachsen
Hebammenverband Niedersachsen e.V.

Ab 8:00 Uhr beginnt die Einwahl. Nach und nach füllt sich der Bildschirm mit kleinen Einblicken in verschiedene Wohnräume und Arbeitszimmer. Die Vorsitzenden Christina Altmann, Bremen und Hilke Schauland, Niedersachsen haken Namen ab und helfen noch bei einigen Einstellungen. Es läuft Easy Tiger von Billy Raffoul, ein ruhiger, harmonischer Song. Nicht das übliche aufgeregte gegenseitige Begrüßen und freudiges Durcheinanderlaufen. Das gemeinsame Kaffeetrinken, Kennenlernen, Fragen stellen, nicht das große Wiedersehen wie in Präsenz. Bei der letzten Landestagung, kurz vor den Einschränkungen, die die Pandemie mitbrachte, kamen wir mit über 400 Teilnehmer*innen in einem großen Saal zusammen. Diesmal sind es gut 220 Kolleg*innen von zuhause aus.

UGO-DHVNach einleitenden Worten von Veronika Bujny, 1. Vorsitzende Niedersachsen, begrüßt auch kurz die Präsidentin vom DHV, Ulrike Geppert-Orthofer die Kolleg*innen der beiden Länder (und einigen Gästen aus Schleswig-Holstein, Hamburg u.a.). Sie stellt heraus, dass es eine Sondersituation ist, dass zwei Landesverbände zusammen eine Tagung organisiert haben, die auch unterschiedlicher nicht sein könnten. Der Niedersächsische Verband hat etwa 2000 Mitglieder zu verzeichnen, während Bremen als Stadtstaat auf rund 200 blickt.

Veronika Bujny gibt einen kurzen Rückblick über die zwei Jahre, die seit der letzten Landestagung Niedersachsens in Celle vergangen sind. Die Akademisierung, das veränderte Landeshebammengesetz, die Klinikschließungen, welche den Verband viel beschäftigen sind die großen Meilensteine.

Sie beklagt, dass mit Hebammen oftmals paternalistisch umgegangen wird und der Verband in politischen Entscheidungen oft nicht herangezogen wird, sondern Ärzte*verbände usw. befragt werden. Es ist daher leider notwendig, stets auf sich aufmerksam zu machen, auf Mitbestimmung zu bestehen und selbst auch zum Thema Krankenhausfinanzierung zu arbeiten. Sie motiviert die Kolleg*innen, sich aktiv im Verband zu engagieren, damit der Verband weiter so stark bleibt.

Einfuehrung Christina Altmann stellt sich als neue Vorsitzende des Landesverbands Bremen vor und bedauert, die Teilnehmenden nicht wie geplant live in Bremen begrüßen zu können. Sie stellt die S3-Leitlinie „Vaginale Geburt am Termin“ als weiteres wichtiges Thema heraus und schildert, dass die Umsetzung in die Praxis nicht von heut auf morgen passiert. Daher wurde das Thema auf die Agenda des heutigen Fortbildungstages gesetzt, um die praktische Umsetzung mit einem Austausch zu diskutieren. Ein Break-out-Room wird nach der Tagung geöffnet, um eine offene Diskussion zu ermöglichen.

Vorträge

Als erste Referentin wird nun Colette Mergeay vorgestellt. Die Diplom-Psychologin hat beruflich im Klinikum Bremen-Nord Erfahrungen mit Geburt und Tod gesammelt. Sie referiert über das Selbstvertrauen im Geburtsprozess als Voraussetzung zur Bindungsfähigkeit, hinterfragt den Begriff der „Selbstbestimmung“ im Geburtsgeschehen und reflektiert über das Hebammenwissen und das Nichtwissen. Zentrale Wichtigkeit nimmt ihrer Ansicht nach das Bindungsbedürfnis ein. Denn durch die Bindung entsteht Autonomie: Bindung und Lösung bedingen sich. Der Begriff „Selbstbestimmung“ jedoch erscheint ihr problematisch, da ein Mangel an Kontrolle über das Geschehen der Geburt innewohnend ist. Selbstvertrauen in die eigenen Fähigkeiten ist aber positiv.
Das Recht auf Nichtwissen wird oft vernachlässigt. Ab dem ersten Ultraschallbild geht eine Maschinerie in Gang und Recht auf Nicht-wissen muss, wenn gewollt vor Untersuchungen eingefordert werden. Familien brauchen Hebammen als vertrauensvolle Unterstützung, auch da sonst das Wochenbett vernachlässigt wird. Das Nichtwissen kann als wichtige Komponente des Vertrauens betrachtet werden.
hauffe_mergeay-300x142Nach dem Vortrag werden von vielen Teilnehmenden herzliche Dankesworte ausgesprochen. Später am Tag wird Colette Mergeay von Ulrike Hauffe mit einer Rede gewürdigt. Sie spricht über ihre gemeinsame Arbeit im AKF, welche sich um jeden Bereich der Frauengesundheit sorgte, aber vor allem rund um die Geburt. Schon in den 80er Jahren erfolgten Mergeays Versuche der Verbesserung der Geburtshilfe durch verschiedene Institutionen in Zeiten der programmierten Geburt. Stillen, Wochenbett und die damit einhergehende Bindung sind auch heute noch ihre zentralen Themen.

Den Vortrag im Original können Sie >> hier nachlesen.

Muehlhauser_Kraus-181x300 Christina Altmann führt in neues Thema ein, welches die S3-Leitlinie „Adipositas und Schwangerschaft“ thematisiert. Sie stellt Universitätsprofessorin i. R. Dr. med. Ingrid Mühlhauser vor, welche seit 2017 Vorsitzende des Arbeitskreis Frauengesundheit e.V. (AKF) ist. Diese hinterfragt in Ihrem Vortrag die S3-Leitlinie „Adipositas und Schwangerschaft“ kritisch. Zwar waren Hebammenverbände an der Erstellung beteiligt, die Leitlinie jedoch von der Deutschen Stiftung Frauengesundheit und damit von Ärzte*verbänden und Pharmafirmen gesponsert.
Mühlhausers Recherche zeigt sich als sehr tiefgehend. Vor allem von ihrer Kritik getroffen werden die Empfehlungen: sie ergeben sich bei vielen Beispielen aus einem schlechten Evidenzlevel, erreichen aber oftmals trotzdem einen hohen Konsens unter den Expert*innen – beruhen also auf deren Meinung. Den mittlerweile üblichen Glukosetoleranztest sieht sie ebenfalls kritisch. Frauen sollte insgesamt die Möglichkeit geboten bekommen, zu verstehen, was hier angeboten wird und warum, unter anderem um Tests und Untersuchungen auch ablehnen zu können. Daher ist es wichtig, die Informationen verständlich weiterzugeben seitens des medizinischen Personals. Dies fordern auch die Mutterschaftsrichtlinien.

Krauss-300x169Die Hebamme und Stillberaterin Bettina Kraus berichtet aus der Praxis der Stillberatung und -begleitung adipöser Mütter. Leider haben diese laut der Leitlinie ein höheres Risiko für Geburtskomplikationen. Die Auswirkungen können zu Stillproblemen führen, zum Beispiel hemmen die Schmerzen nach einer Sectio den Milchspendereflex. Kraus nennt weitere Beispiele und wie im Einzelnen damit umgegangen werden kann. Im Allgemeinen berät sie die betroffenen Frauen schon in der Schwangerschaft zur Kolostrumgewinnung. Das Kolostrum kann dann eingefroren zur Geburt mitgebracht und danach gefüttert werden, falls das Stillen nicht sofort funktioniert. Psychosoziale Faktoren sind ebenfalls zu beachten: Adipöse Mütter sind von Bodyshaming betroffen. Dies beeinflusst die Einstellung zum Körper und den Umgang mit dem Stillen in einigen Fällen negativ. Sie profitieren daher hypothetisch von einer intensiveren Unterstützung, was die Leitlinie – trotz mangelnder Evidenz - empfiehlt.

Luedemann-300x147 Hilke Schauland, 2. Vorsitzende aus Niedersachsen begrüßt Dr. med. Karin Lüdemann, leitende Oberärztin der Geburtshilfe.

Diese merkt zu Beginn des Vortrags an, dass nur wenige Geburten aktuell ohne Interventionen verlaufen. Sie referiert über die Pathologie, was Notfälle sind und was man tun kann. Leider sagt sie, kann man nicht jede Frau retten. Die Ursache hierfür ist aber oft Fehlkommunikation im Team, zu spätes dazu rufen von Hilfe etc. Jährlich sterben geschätzt 50-60 Mütter an Blutungen. Etwa 2000 Mütter sterben insgesamt während der Geburt.Aufgrund der höhere Interventionsrate sind Blutungen oft nicht vorhersehbar. Das problematische an Interventionen sind in diesem Fall die Folgen: In Narben am Uterus kann die Plazenta wachsen, sodass sie sich nicht gut lösen kann. Die Risikoanamnese muss daher ausführlich gemacht werden, auch um aufgrund von Zuwanderung und Sprachproblemen. Die Frauen bekommen deshalb oft schon eine schlechtere Vorsorge, haben Nahrungsmitteltabus, oder eine Anämie von vornherein im Gepäck. Ein weiteres Problem ist es, richtig einzuschätzen, wann eine Blutung normal ist und wann nicht mehr. Es kann helfen, die Menge des Blutverlustes zu messen durch Einschätzung mit Hilfsmitteln, zum Beispiel vorher auszuprobieren, welche in der Klinik immer vorhandenen Unterlagen oder Gefäße wie viel Flüssigkeit fassen. Auf jeden Fall sollte man immer frühzeitig das Team ins Boot holen.
Die anschließende Verarbeitung (Nachgespräche) eines Ereignisses ist wichtig zur Bewältigung im Team. Genauso kann vorbereitend eine Simulation, gerade für wechselnde Teamzusammenstellungen, sehr nützlich sein zur Teambildung, um Anliegen gegenseitig zu verstehen und eine Sicherheit zu gewinnen, was in welchem Fall zu tun ist.

Ramsell-300x107 Der zweite Teil des Tagungstages wird eingeläutet von Veronika Bujny, die Andrea Ramsell begrüßt. Die Beauftragte für den Angestelltenbereich des DHV beginnt das Thema der 1:1-Betreuung.

Andrea Ramsell beschreibt zunächst en aktuellen Stand. Der DHV hat eine Definition der 1:1-Betreuung aufgestellt, die Leitlinie vaginale Geburt am Termin sieht sie ebenfalls vor, auch in Politik und Presse ist der Begriff akzeptiert. Großartig ist, dass der Begriff sogar im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung eingesetzt wurde.

Aufgrund der Aktualität fragt Veronika Bujny nach der Pflegepersonaluntergrenzenverordnung. Ramsell hat den Eindruck, dass in dem Zusammenhang von der Gesundheitspolitik nicht verstanden wurde, was Hebammen in Kliniken überhaupt machen. Auch die Wochenstation gehört zum Wirkungskreis. Der DHV hat Pressemitteilungen und Positionspapiere geschrieben, ging in Austausch mit der Krankenhausgesellschaft, beriet sich gemeinsam mit anderen Verbänden, alle sind sich einig, dass die Verordnung kontraproduktiv ist. Viele Fragen (u.a. bezüglich Leiharbeitskräfte, Ausbildung) werden durch die Änderungsvereinbarung nicht beantwortet. Es gab Briefe an Gesundheitsminister*innen und Sprecher*innen. Dies ist zurzeit schwierig: Die Ansprechpartner*innen haben durch die Wahl gewechselt und alle sind mit der Covid-Pandemie beschäftigt.
Da es sich aber nur um eine Verordnung handelt, kann alles noch relativ schnell wieder geändert werden. Daher ist Ramsell optimistisch, dass sich das Ganze bald „heilt“. Sie empfiehlt den Angestellten Hebammen, darauf zu drängen den Status quo bis dahin beizubehalten, keine Veränderungen auf den Wochenstationen und weiter auf kommunaler Ebene auf die Politiker*innen einzuwirken.

Podiumsdiskussion

Podium

  • Andrea Ramsell, Beirätin für den Angstelltenbereich DHV
  • Veronika Bujny, 1.Vorsitzende HVN
  • Ulrike Hauffe, stellv. Vorsitzende des Verwaltungsrates der Barmer und Mitglied im GBA
  • Dr. med. Christoph Reiche, Chefarzt Gynäkologie und Geburtshilfe St. Johannes-Hospital Varel
  • Silvia van Geel, Mother Hood e.V.
  • Heidi Giersberg, Hebamme M.Sc., Praxiskoordination Hebammenstudiengang Hochschule Bremen

Ulrike Hauffe ist der Meinung, die Geburtshilfe müsste im Rahmen des neuen Niedersächsischen Krankenhausgesetzes in der Grundversorgung angesiedelt sein und Elternvereine, sowie der Hebammenverband müssen sich im Interesse der werdenden Familien dafür einsetzen.

Dr. Reiche schildert die Schwierigkeit, dass Ärzt:innenmangel in der Geburtshilfe herrscht und man auch eine Leidenschaft für die Tätigkeit braucht. Es sollte möglichst eine Vernetzung unter Hebammen und Ärzt:innenschaft stattfinden, um gemeinsam in eine Richtung zu gehen.

Silvia van Geel stellt dar, dass Gebärende einige Dinge für eine gute Geburt brauchen: weniger Intervention, gute Begleitung, Betreuung, Zeit, Anerkennende Kommunikation, Wahrnehmung der Bedürfnisse, eine Vertrauensperson, um sich fallen lassen zu können und Hilfe dann, wenn sie gebraucht wird.

Heidi Giersberg vertritt die Auffassung, dass die 1.1-Betreuung wichtig ist und durch eine gute Planung (u.a. Berechnung der Geburtenzahlen, Analyse von Spitzenzeiten) innerhalb der Kliniken umgesetzt werden kann. Die Gebärenden, wie auch die Hebammen, müssen sich darauf verlassen können, dass im Hintergrund jemand bereit ist, um weitere Schwangere betreuen zu können.

Die Diskussion wird mit den Punkten abgeschlossen

  • Dass Vorhaltekosten für ärztliches und Hebammenpersonal übernommen werden müssen. Dies ist eine bundeswiete Forderung, steht auch im Koalitionsvertrag.
  • Kliniken, die sich dauernd abmelden, müssen aus Sicherstellung herausgerechnet werden.
  • Es muss mehr Personal für die Arbeit in den Kliniken gebraucht.
  • Es braucht auch Haftpflichtfonds, daraufhin schließen nämlich auch viele Kliniken.
  • Die Geburtshilfe ist verknüpft mit dem Stellenwert der Frauen(-gesundheit) und der Familie in der Gesellschaft. Leider können Familien, Gebärende, frische Eltern nicht so politisch heraustreten, weil sie genau damit beschäftigt sind.

Veronika Bujny motiviert alle Teilnehmenden, an die Kommunalpolitiker*innen JETZT heranzutreten, denn der Gesetzesentwurf wird JETZT verhandelt.

Vorträge

Nielsen-300x150 Renate Nielsen arbeitet in der praktischen Geburtshilfe und war an der Erstellung der Leitlinie beteiligt.

Wichtige Meilensteine sind ihrer Meinung nach:

  • Die Schwangere wird in den Mittelpunkt gestellt. Ihr wird eine informierte Entscheidung ermöglicht, Begrifflichkeit Frauzentrierte Betreuung ist ein Meilenstein in der Ausformulierung!
  • Betreuung: Schwangere soll Informationen über verschiedene Geburtsorte erhalten, sowie einen Zugang zur 1:1-Betreuung
  • Die Ausformulierung der Latenzphase. Die Geburtsphasen sind beschrieben. Im Alltag erlebtes ist jetzt ausformuliert. Das Personal ist nun nicht mehr zum Vorantreiben verpflichtet! Auch erhalten die Schwangeren hier vorher die Info: was erwartet sie im Einzelnen und dass es eine Latenzphase gibt.
  • Das CTG wird teilweise von der Auskultation abgelöst
  • Das Bonding ist in den Vordergrund gerückt, es gibt einen klaren Auftrag, dieses zu fördern
  • Der gewandelte Umgang mit vorzeitigem Blasensprung. Hier kommt man weg von der Pathologisierung. Der nicht mehr als notwendig betrachtete Liegendtransport nimmt auch Stress aus dem Rettungsdienst. Die Leitlinie ermöglicht sogar, dass diese Frauen nochmal nach Hause gehen können.
  • Auch sieht sie eine starke Reduzierung vaginaler Untersuchungen.

Renate Nielsen lobt die Zuarbeit von MotherHood e.V. und meint abschließend: „Es steckt viel drin, für die Frauen und ein gutes Geburtserlebnis.“

Schmidt-300x148Gaby Schmidt schildert in ihrem Vortrag, wie die neue Leitlinie zur vaginalen Geburt am Termin in Ihrer Klinik Links der Weser ankam. Es herrschte allgemein Freude darüber, verbunden mit dem Willen der Umsetzung. Ihr Vortrag betrachtet die Entstehung und Lebensphasen einer Leitlinie im Allgemeinen und die eine Leitlinie umgesetzt werden kann. Die Implementierung ist der vierte von fünf Lebensphasen einer Leitlinie, dieser wäre jetzt für die neue Leitlinie aktuell. Das Wissen, die wissenschaftlichen Ergebnisse sollen nun in die Praxis eingeführt werden.
Es müssen mehrere Grundvoraussetzungen getroffen werden, bzw. der Prozess mit einigen Werkzeugen begleitet werden: Eine Adaptierung an vorhandene strukturelle und personelle Möglichkeiten, Barrierenanalyse, Anreize, Monitoring von Indikatoren der Prozess- und Ergebnisqualität, ständige Rückmeldung und wiederholte Fortbildung.
Sie schildert den Prozess der Implementierung, wie er in ihrer Klinik bisher abgelaufen ist. Dabei wurde die Barrienanalyse immer wieder durchgeführt, wenn sich äußere oder innere Faktoren geändert haben.

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